Oft wenn ich Musik zum Schreiben, Spazieren und für andere schöne, nutzlose Dinge suche, lande ich bei The Necks. Auch beim Kochen, dieser von mir mal mit mehr, mal mit weniger Hingabe betriebenen Luxus-Zauberei an Nährstoffen, ebenso beim händischen Geschirrspülen schwoofe ich mit Vorliebe zur Zeitlupen-Jazz-Trance des australischen Trios über den schrulligen Linoleumboden meiner Altbauküche. Für „Appleshine Continuum“ haben sich nun Underworld das Trio aus Australien eingeladen.
Underworld & The Necks – Appleshine Continuum
The Necks sind seit ihrer ersten Veröffentlichung „Sex“ aus dem Jahr 1989 äußerst profunde Maßnehmer und Taktgeber im minimalmusikalischen Milieu. Als Trio vermessen sie, zumeist mit Piano, Standbass und Drums, die maximalen Erfolge, die man mit minimalen Variationen von kompositorischen Mustern und Patterns auf einem weit aufgefalteten Zeitraum feiern kann. Ihre Alben sind häufig One-Track-Veröffentlichungen, auf denen sie sich eine knappe Stunde Zeit nehmen, um alles auszuwalzen und mühlwerkmäßig, vielleicht auch spieluhrhaft, mindestens aber windspielartig auszumahlen, was man aus einer Grundidee herausdestillieren kann.
Man könnte diese Idee auch als Thema bezeichnen, doch das träfe es nicht ganz. The Necks sind keine Angeber, die jede Möglichkeit eines schematischen Themas innerhalb eines harmoniegelehrten Korsetts durchdeklinieren. Sie sind als Trio eine organische Einheit, die einen gemeinsamen Puls finden und ihre Idee in diesem Grundpulsieren vorwärtsschieben, weiterdenken und oft sogar, in besagter album-umfassender Spielzeit, zu etwas Neuem morphen – langsam, sublim, ohne, dass man es als Hörende zwingend bemerkt.
Die organische Maschine
The Necks sind eine Art menschgemachter Apparat, der aus einem unablässigen Puls heraus seine schöne Musik formt – als ergösse sie sich aus einer Schmiede, als entstünde sie in einem Webstuhl, der langsam, stetig und ohne äußeres Zutun seine schönen Muster erwirbelt.
Die Stücke von The Necks sind derart aus einem Fluss gegossen, dass man schnell vergisst, dass sie von drei in einem Raum stehenden Menschen gespielt wird. Klar, es gibt – wir sprechen hier, wenn auch in Form der Zeitlupe, im weitesten Sinne schließlich von Jazz – solistische Einlagen, in denen sich einer der Musiker etwas an die Oberfläche dieser wogenden Musik spielt, während die anderen den Exkurs des Einzelnen organisch unterbauen und umfassen wie eine ätherische Klammer. Doch in der Summe, um ein weiteres Album der Gruppe zu zitieren, sind sie gemeinsam ein Körper. Genau darin, im gemeinsamen Verschmelzen, sind The Necks begnadete Musiker. Oft neigen begnadete Musiker dazu, ihre Talente gespreizt zur Schau zu stellen und eine Art Nummernrevue solistischer Skills daraus zu machen. Dieser schlimmen Unart gehen The Necks seit jeher aus dem Weg. Und doch basiert ihr Minimalismus nicht auf Understatement. Die Basis ihrer scheinbar frei-fluid geformten Improvisationen ist große Präzision.
Zeitlupen-Jazz von The Necks trifft auf die zwingende Loop-Musik von Underworld
Die in vielen Feldern frickelnden Underworld riefen im November 2018 ihre im Internet publizierte Projektserie „Drift“ ins Leben. Innerhalb eines Jahres entstanden im Wochentakt zahllose Musikstücke, die, mit Videoclips und -filmen versehen, ins Internet gestellt wurden. Neben Musik und Bewegtbildern gab es auch Texte und andere Kunstformen. Neben eigenen Songs und Tracks entstanden diverse Kollaborationen. Auch Underworld sind, wie The Necks, eine große Schmiede organisch verkuppelter Spielwiesen.
Mit dem australischen Minimal-Improv-Trio The Necks trafen sich Underworld im Rahmen von „Drift“ zu gemeinsamen Sessions. Neben den Stücken „A Very Silent Way“ und „Altitude Dub Continuum“, die beide verhältnismäßig nah am Werk von The Necks musizieren, entstand das treibende, dreiviertelstündige „Appleshine Continuum“.
Gemeinsam nehmen sich die Musiker, allesamt seit Jahrzehnten aktiv, das bereits existierende Stück „Appleshine“ von Underworld vor und bearbeiten, strecken und umrunden es ohne Zeitnot. „Appleshine Continuum“ geht als One-Track-Veröffentlichung in die vollen 47 Minuten. Für The Necks ist das nicht ungewöhnlich. Und der elektronischen Musik steht Zeit in der Häufung bis zum Stillstand sowieso immer gut.
Zeit in der Häufung bis zum Stillstand
Underworld liefern einen typischen, hypnotischen, äußert moosig anmutenden, elektronisch programmierten Grundbeat. Ausgangspunkt ist hier also sowas wie Techno im Sinne von Technikmusik. The Necks steigen mit Orgelparts ein, weben groovende Patterns in das Gerüst. Der Bass schnalzt, das Schlagzeug shuffelt und schnuffelt und die Musiker schaffen ordentlich was an Kopfnicker- und Mittwippenergie ins Haus hier. Zuweilen klingt das wie Cocktail-Electronica und Grafikagenturmusik der späten 90er Jahre – was insofern nur folgerichtig ist, da beide: Underworld und The Necks ausserhalb zeitgenössischer Tendenzen und musikalischer Moden funktionieren.
The Necks sind gemeinhin mehr für meditativ pulsierende, handgespielte Patternmusik bekannt, irgendwo im (Ent)spannungsfeld von Minimal und Avantgarde. Viele ihrer Alben fügen sich aber auch nahtlos in laid-back, elektronisch-beatgestützte Downtempo- und Kiffergedüdel-Playlisten ein. Doch ihr Renommee und ihre Diskographie als experimentelle Kult-Minimalisten hebt sie aus der Riege anderer Zeitlupen- und Dark-Jazz-Projekte hervor. Mit Underworld wagen sie sich nun ins Metier lässiger Rumfahrergrooves und bummsfidel bouncender Workout-Musik.
Diese Kollaboartion spiegelt, weil sie schlicht einfach auch verhältnismäßig schnelle Musik ist, The Necks nicht unbedingt vollständig wider. In der Art, wie Underworld und The Necks hier jedoch miteinander auf sportlichen BPM vorwärtspumpen, später auch -wirbeln und final dann -plätschern, scheint auch diese Musik hier einem, wie oben skizzierten, organischen Apparat zu entströmen.
Ein gutes Stück gedämpfter Stampfmusik
Man kann das 47-Minuten-Stück im Wortsinne von zwei Seiten her lesen: anfangs klingt es stark nach Underworld und elektromusikalisches Treiben dominiert. Dann schieben, stellen und installieren The Necks nach und nach ihre Instrumente in dieses relativ straighte, taktgestaltende Grundgerüst. In den letzten Minuten haben The Necks das Stück dann vollends vereinnahmt. Hier klingt „Appleshine Continuum“ dann absolut nach einem Stück der drei Australier: nach einem Windspiel, dessen Zischeln und Tuscheln in frei-fluider Zeitlupe irgendwohin abebbt, wo Zeit und Schemata sowieso nur lästige, formale Grenzen sind.
Recorded in a single take during two days of improvising at AIR Studios, Appleshine Continuum takes Underworld’s original version of Appleshine (Ep.2 Pt.1) as its starting point and quickly takes flight, only returning to Earth’s atmosphere after 47 mesmerising minutes… (underworldlive.com)
Der Sound des puslierenden Grundgerüsts ist organisch, weich und samten, underworldig. The Necks löten souverän ihre Jazz-Expertise in das dankbar pumpende Schema des Tracks: in diesem straighten Beat ist natürlich viel Raum für freies Wirbeln, Wandern und Wölben. In der puren Energie des schnellen Vorwärtspumpens ist paradoxerweise genau jene Ruhe und jener Raum, den es braucht, um mal so richtig alles Mögliche an Möglichkeiten hinzustellen. Hier kann sich behutsam den eigentlichen Notwendigkeiten angenähert werden. Dieses Grundprinzip elektronischer Musik – die perlschnurartige Auffädelung und dann vorgenommene Ausstaffierung eines Fundaments, die Auftürmung von Wiederholung bis zur Trance – ist für The Necks quasi eine Steilvorlage.
Man hört „Appleshine Continuum“ den Jamsession-Charakter durchaus an. Die Ebenen und Patterns fusseln sich insgesamt prima zusammen wie zwei schwungvoll in die Hecke geworfene Laubbesen, verschmelzen jedoch nicht vollends zu einer großen, konstruktiv erdachten, gemeinschaftlich ausgefeilten Synthese. Es bleibt ein kleiner Novelty-Faktor, wenn die bei The Necks nicht selten auftauchenden, geheimagentenfilmtauglichen Pianophrasierungen hier so betont munter auf dem Beat herumstampfen. Albern ist das am Ende aber nicht. Schlussendlich finden hier best of both worlds in gelungener Weise zusammen: Die Stilistiken und Versatzstücke der Trademark-Sounds von Underworld und The Necks schränken sich auf freie Art baukastenartig umeinander statt vollständig ineinander aufzugehen. In dieser Undurchdekliniertheit liegt eine angenehme Luftigkeit und Spontaneität dieses Resultates einer gemeinsamen Session. Es ist daher im besten Sinne eine „immersive and exploratory music that dive deep inside the band’s psyche“: so beschreiben Underworld die Grundidee zur Projektreihe „Drift“, die übrigens auch viele andere tolle Tracks freisetzte, auf ihrer Webseite.
Und im Sinne einer funktionalen Musik ist diese Musik nicht nur beim Spazierengehen oder Kochen prima einsetzbar, sondern absolut auch auf dem Fahrrad oder dem Stepper. Und genau auf solchen Geräten vermute ich, selbst einer davon, einen nicht geringen Teil der langjährigen Fans von Underworld und The Necks in ihrer Freizeit. Die Zeit ist nämlich dann doch, so gut man sie in den Stücken der hier Musizierenden zum Stehen bringen kann, ein Continuum und als Mensch muss man dann eben hin und wieder doch mal auf einen von diesen oder jenen Apparaten um damit Schritt zu halten. Und was passte dazu besser als eine gelungene Melange aus Mensch- und Apparat-Musik, wie sie Underworld und The Necks hier freisetzen.
Der offizielle Underworld-Account stellt das gute Stück gedämpfter Stampfmusik, garniert mit collagenhaft ineinander huschenden Bewegtbildern aus Marokko, in voller Länge bei YouTube bereit:
Mittlerweile gibt es die Ausbeute aus dem einjährigen Projekt „Drift“ als „Drift Series I“ gesammelt als 7-CD-Set oder, etwas gerafft, kompiliert und editiert, als Sampler auf CD oder Doppel-LP.